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Tai Chi Chuan und Gesundheit

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Tai Chi Chuan und Gesundheit

Von Andreas Purucker - Die positiven Auswirkungen von Tai Chi Chuan auf die Gesundheit können wir im Wesentlichen auf zwei Ebenen erfahren: Im ersten Schritt auf der rein körperlichen Ebene, später nach reichlich Übung und Geduld auch auf der energetischen Ebene. Fortschritte auf beiden Ebenen stehen darüber hinaus in enger Wechselwirkung. So stärkt z.B. die Körperenergie (Qi) das Immunsystem des Körpers - umgekehrt ist das Lösen von physischen Blockaden im Körper die Voraussetzung für frei zirkulierendes Qi.

 

Die physische Erfahrung

Auch wenn sich die grundsätzlichen Stellungen und Bewegungen im Tai Chi Chuan zu Beginn unnatürlich und komplex anfühlen, so sind sie doch nur eine Rückkehr zu den ursprünglichen Prinzipien des menschlichen Bewegungsapparates. Kleine Kinder richten sich noch ganz selbstverständlich nach diesen Prinzipien, bis sie diese im Laufe ihres Lebens schlichtweg "verlernen". Andauernde Fehlhaltungen (z.B. beim Sitzen am Schreibtisch), Verletzungen und übermäßige Beanspruchung einzelner Körperteile (z.B. beim Leistungssport oder durch einseitige körperliche Arbeit) führen zu Abnutzungen und einem in sich unnatürlichen Bewegungsverhalten. Darüber hinaus geben uns die geltenden gesellschaftlichen Ideale vor, primär die Bewegungsmuskulatur zu trainieren, wenn wir uns sportlich betätigen wollen (z.B. beim Jogging oder anderen Fitness-Sportarten). Solange wir dabei nicht übertreiben und weitere Verspannungen provozieren, sind Fitness- und Ausdauersportarten aus medizinischer Sicht gesund, jedem im Rahmen seiner Möglichkeiten zu empfehlen und stellen kein kontraproduktives Verhalten im Sinne des Tai Chi Chuan dar.

Allerdings stellen selbst trainierte Sportler fest, dass sich Tai Chi Chuan zunächst "falsch" oder ungewohnt anfühlen kann. Einsteiger bemerken zu Beginn ihrer Tai Chi-Karriere möglicherweise sogar eine Zunahme von Beschwerden, z.B. Verspannungen im Schulterbereich. Der Grund: Ein Tai Chi-Anfänger muss erst (wieder) mental und physisch lernen, "loszulassen", um die positive Kraftentfaltung der Tai Chi-Bewegungsprinzipien zu entdecken.

Loslassen bedeutet hier: Wir setzen so wenig Bewegungsmuskeln ein wie möglich und versuchen, alle Haltungen und Übungen entspannt und ohne bewusste physische Kraft auszuführen. Dabei spielen uns zuerst einmal die "alten" Angewohnheiten einen üblen Streich: Um die Tai Chi Prinzipien einzuhalten, setzen wir Bewegungsmuskelkraft ein. Diese wiederum ist dafür nicht geschaffen - vorhandene Verspannungen werden noch deutlicher spürbar.

Die gute Nachricht: Wer geduldig mit sich selbst ist, erfährt eine baldige Besserung. Mit regelmäßiger Übung - zu Beginn reichen neben dem wöchentlichen Unterricht ca. 15 min. am Tag - übernimmt zunehmend die "Haltemuskulatur" das Kommando. Das in der Medizin "autochthone Muskulatur" genannte System führt bei den meisten Sportarten und in unserem Bewusstsein eher ein Schattendasein. Sie ist aber z.B. dafür verantwortlich, dass wir nicht einfach zusammenklappen wie eine Marionette, weil sie zusammen mit einem komplexen Bandapparat unsere Wirbelsäule aufrecht hält. Die Haltemuskulatur ist das mächtigste Muskelsystem des Menschen - wenn es uns gelingt, dieses System stärker einzubeziehen, können wir die Bewegungsmuskulatur guten Gewissens auch mal "loslassen".

Tai Chi Chuan ist eine hervorragende Methode, die Haltemuskulatur zu trainieren und das Bewußtsein für die korrekte natürliche Haltung zu erhöhen. Dadurch reduzieren wir die Gefahr von Verhärtungen und Verspannungen, stärken die Knochen und werden wieder beweglicher. Diesen positiven Effekt bestreitet inzwischen niemand mehr. Ärzte verordnen zunehmend Tai Chi Chuan oder ähnlich aufgebaute Qi Gong-Systeme im Rahmen von Reha-Maßnahmen. Krankenkassen erstatten unter bestimmten Voraussetzungen Kursgebühren und bieten Tai Chi-Kurse unter eigener Regie an (z.B. die AOK).

Die trainierte Haltemuskulatur ermöglicht uns, die anfänglich noch als ungewohnt empfundenen Stellungen einzunehmen und locker zu bewahren. Der Körper "lernt", sich wieder natürlich zu bewegen, und fühlt sich entspannter an. Der Zugang zur zweiten Erfahrung, den energetischen Effekten des Tai Chi Chuan, ist geschaffen.

 

Die energetische Erfahrung

Wer mit Tai Chi Chuan beginnt, kann den feinstofflichen Aspekt der Kampf- und Bewegungskunst noch nicht recht nachvollziehen. Was nicht heißt, dass es keine energetischen Auswirkungen - auch schon zu Beginn - gibt. Ein gutes Beispiel sind die Finger, die warm werden und prickeln, weil wir sie uns als Schläuche, aus denen Wasser schießt, vorstellen. Oder das "Spiel mit dem Qi-Ball": Die Hände halten einen imaginären Ball (vielleicht von der Größe eines Fußballes) in Höhe des Solar Plexus, die Arme sind angenehm gerundet, die Ellenbogen entspannt. Ziemlich schnell stellt sich bei den meisten Übungsteilnehmern das Gefühl ein, dass zwischen ihren Händen eine Kraft wirkt - viele vergleichen sie mit Magnetismus oder mit unsichtbaren Gummibändern. Dieses Qi- (und damit Energie-) Gefühl lädt zum Experiment ein: Wir können testen, wie lange die "Kraft hält", indem wir den Abstand unserer Hände vergrößern. Oder wir drehen den imaginären Ball, bewegen ihn auf und ab, hin und her.

Die energetischen Auswirkungen auf den Körper und damit auf die Gesundheit sind unbestritten, zumindest bei allen, die schon länger Tai Chi Chuan praktizieren, oder bei Ausübenden der Traditionellen Chinesischen Medizin (kurz "TCM"). Die Akupunktur setzt als bekanntestes Beispiel an den Energieleitbahnen des menschlichen Körpers an, den sogenannten "Meridianen". Durch gezielte Nadelstiche löst der Akupunkteur Energieblockaden, die sich gesundheitsschädlich auswirken, und behandelt somit Beschwerden verschiedenster Art.

Wie bei allen Naturheilverfahren darf man keine Wunder erwarten, sondern muss sich in Geduld üben. Das gilt erst recht, wenn wir die Schwelle der energetischen Wirkung im Tai Chi Chuan überschreiten wollen. Alle Sequenzen der Tai Chi-Form z.B. sind in eine Yin- und Yang-Phase aufgeteilt, d.h. sinkende und steigende Energie. Energie wiederum folgt primär der Vorstellungskraft - und diese muss sich gegebenenfalls erst entwickeln. Deshalb haben die Väter der Tai Chi-Stile "die Form" kreiert. Auch wenn es heute unterschiedliche Varianten innerhalb der einzelnen Stile gibt, so ist das Ziel immer dasselbe: Konzentration, Aufmerksamkeit und das Lenken der Energie in den einzelnen Bewegungssequenzen.

Ist der reine Ablauf der Form erst einmal gefestigt, entwickeln wir neben weiteren Haltungs- und Bewegungsdetails (z.B. Zentrums- und Spiralbewegungen) das Bewusstsein für die Körperenergie. Dazu kommt, dass wir nicht nur als "Behälter" unseres eigenen Qi fungieren, sondern dass uns das Qi gleichsam umgibt - denn alles Leben ist voller Energie (also auch Pflanzen, Wasser, Sonnenlicht und andere natürliche Ressourcen). Nach der einschlägigen Literatur zum Thema Tai Chi Chuan sind weit Fortgeschrittene in der Lage, das "innere" und "äußere" Qi zu verbinden und daraus Vorteile für ihre Gesundheit und Kampfkunst zu generieren. Erfahrungsberichte und Anleitungen dazu haben wenig mit Esoterik zu tun, auch wenn "Nicht-Eingeweihte" gerne eine Verbindung damit herstellen. Vielmehr haben authentische Verfasser dieser Literatur ein langes (oft lebensumfassendes) Training hinter sich und richten sich nach der Jahrtausende alten Taoistischen Auffassung, dass der Mensch nicht als separates Individuum in der Welt existiert, sondern grundsätzlich mit allem verbunden ist.

Unsere Gesundheit profitiert nach und nach von einer steigenden Körperenergie: Sie stärkt des Immunsystems und die Organe, sie unterstützt das Abklingen von Entzündungen, sie zeigt sich in weniger Müdigkeit und Abgeschlagenheit, sie erhöht die Konzentrationsfähigkeit im Alltag – kurz: Sie bedeutet mehr Lebensfreude und unterstreicht nachhaltig den Sinn, Tai Chi Chuan auszuüben.